Buxtehuder Talente
Buxtehuder Talente

Sie wollen in die Handball-Bundesliga
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Wer Handball-Profi werden will, muss einmal im Monat seine Regale auswischen. Muss bis halb Zehn abends seinen Müll rausgebracht haben und morgens den Boden freiräumen, damit feucht gewischt werden kann. Denn das alles gehört zu den Pflichten eines Talents, das sich im Internat des Handball-Bundesligisten DHfK Leipzig ausbilden lässt. Darunter sind seit gut einem halben Jahr die früheren BSV-Handballer Lasse Kock (15) sowie die Leun-Zwillinge Jakob und Finn (beide 16). Sie haben drei der begehrten Internatsplätze ergattert.
Das könnte der Handball-Bundesliga (HBL) zufolge ihre Chancen erhöhen, tatsächlich den Sprung in den Profibereich zu schaffen. Unter allen Clubs der ersten und zweiten Liga, heißt es bei der HBL, führt Leipzig zum ersten Mal die Nachwuchs-Rangliste an. Das heißt, dass der Verein die effektivste Nachwuchsarbeit leiste und jungen Spielern häufig die Möglichkeit gebe, sich in den oberen Ligen zu etablieren. "Wir haben uns Berlin, Lemgo und Dormagen angeschaut, aber nirgendwo war das Umfeld so professionell wie hier“, sagt Finn Leun.
An einem Donnerstag gegen 8.30 Uhr schreiten die drei Buxtehuder durch die dunklen Gänge des Internatkellers, dem Dröhnen der Musik entgegen: der Kraftraum. Jakob Leun, türkisfarbenes Shirt, bestückt die Langhantel mit Gewichten, insgesamt 75 Kilo. Er hievt sie auf seinen Nacken, stützt sie mit den Händen. Nach sechs Kniebeugen setzt er die Hantel ab. Das wiederholt Leun drei Mal. Er schnauft, was übertönt wird vom Hardcore-Techno aus den Boxen.
Video: Das Krafttraining
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Die B-Jugend absolviert an diesem Morgen mehrere Übungen, etwa Klimmzüge oder Liegestützen in Schlingen. Die Physis sei im Handball enorm wichtig, erklärt Athletiktrainer Hagen Pietrek. „So lässt sich die Belastung, die vielen Sprünge, die Antritte, der Körperkontakt, besser kompensieren.“ Mit blauem Stift trägt Jakob Leun seine Leistungen in den Trainingsplan ein.
„Heute ist Wischtag – Bitte Fußboden freiräumen“
Nach einer Stunde verlassen die Buxtehuder den Keller und steigen hinauf in ihre Zimmer oberhalb des Kraftraums. „Heute ist Wischtag – Bitte Fußboden freiräumen“, steht mit Kreide geschrieben auf einer Tafel im Gang.
Das Internat des Sächsischen Landesgymnasiums für Sport, 1952 gegründet, hat schon etliche Olympiasieger und Weltmeister hervorgebracht. Dort, unweit des Leipziger Sportforums, sind die Wege kurz. Junge Handballer, Leichtathleten, Judoka und viele mehr werden hier unterrichtet, verpflegt, trainiert, beherbergt: 124 Plätze auf vier Etagen.
Wenn die Talente zwischen Training und Unterricht durch das Foyer laufen, passieren sie zwei Vitrinen. Auf der einen Seite Sediment- und Magmatisches Gestein, gegenüber eine zehn Meter lange Vitrine vollgestopft mit Pokalen und Medaillen: die Erfolge der jungen Sportler. An einer Wand das Zitat des Briten Oliver Cromwell: „Wer aufhört, besser sein zu wollen, hat aufgehört, gut zu sein.“ Daran werden die Talente jeden Tag erinnert.
Im Internat werden die Sportler von Pädagogen betreut. Sie kontrollieren auch, ob die Regale ausgewischt oder der Müll rausgebracht wurde. Aber: Die Internatsplätze sind knapp bemessen.
Video: Das Leben im Internat
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Zimmer 329. Lasse Kock teilt sich den kargen, etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum mit einem Mitspieler. Links und rechts jeweils ein Bett, für jeden einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank. Das ist Kocks neuer Lebensmittelpunkt. „Ich hatte schon länger das Ziel, auf ein Internat zu gehen“, sagt er.
Ein Scouting-Netzwerk wie im Profifußball gibt es im deutschen Handball nicht. Die Talente bewerben sich bei den Vereinen oder werden empfohlen. Bei Kock, dessen Mutter Kathrin (geborene Kohlhagen) früher Erstligaspielerin in Buxtehude war, gehörten noch Lemgo und Minden zur Auswahl. Nach einer Probewoche fiel die Entscheidung zugunsten Leipzigs.
Kock öffnet den Kleiderschrank, kramt ein Fotobuch hervor, ein Abschiedsgeschenk seiner Familie. Darauf steht in silberfarbenen Lettern: „Wenn du Sehnsucht hast, und du dich alleine fühlst, schaue dir das Album an.“ Er betrachtet Fotos seiner Schwester, seiner Großeltern, seiner Freunde. „Ich schaue mir das Buch jedes Wochenende an“, sagt Kock. Seine Familie sieht er in der Regel alle zwei Monate. Kock und die Leun-Zwillinge gehören zu den wenigen Spielern, die nicht aus Sachsen kommen.
Hier werden die Talente rundum versorgt. Sie können mit Sportpsychologen über Drucksituationen sprechen; sie können sich ohne lange Wartezeiten bei Physiotherapeuten und Ärzten behandeln lassen, und sie sind nah dran an der Bundesliga-Mannschaft. „Wir fordern viel von den Jungs, deshalb wollen wir ihnen auch gewisse Bedingungen bieten“, sagt Matthias Albrecht mit sächsischem Zungenschlag. Albrecht ist Jugendkoordinator des DHfK Leipzig und Co-Trainer der Profi-Mannschaft. Hin und wieder, sagt er, trainiere der Nachwuchs bei den Profis mit, so wie Finn und Jakob Leun am Anfang der Saison.
Die schulische Ausbildung wird zeitlich an die Trainingspläne angepasst. So sitzen Finn und Jakob Leun um 10.50 Uhr hinter einer orangenen Tür. Raum 225, zwei Schulstunden Unterricht bei Frau Bolz in GRW: Gemeinschaftskunde, Rechtserziehung, Wirtschaft. Die Leuns sind die einzigen Schüler im Raum. Der Kreis sei so klein, „damit danach Spanisch in unseren Stundenplan passt“, erklärt Jakob.
Video: Der Schulunterricht
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Die beiden Zehntklässler schreiben eine Arbeit, sie müssen eine Karikatur zur Sozialen Marktwirtschaft interpretieren. Danach diskutieren sie im Unterricht über den Dieselskandal. „Die beiden sind sehr interessiert“, sagt Bolz. Der Notenschnitt liegt zum Halbjahr jeweils bei etwa 2,4. Die Schule, da sind sie sich einig, ist hier einfacher als in Buxtehude. Finn und Jakob Leun, die Söhne des Buxtehuder Bundesliga-Trainers, sehen sich nicht nur äußerlich sehr ähnlich. Sie ticken auch ähnlich und gehen den gleichen Weg, um Profi zu werden.
Der Nationalspieler Franz Semper ist ein „kleines Vorbild“ der beiden. Ein Leipziger Eigengewächs, ebenfalls Linkshänder, ebenfalls auf Halbrechts. Ein Spieler, der schnell den Sprung in die Bundesliga vollzog. In der Regel aber, sagt Jugendkoordinator Albrecht, sei es ein weiter Weg, der auch mal in „Trippel-Trappel-Schritten“ über die zweite oder dritte Liga führe. Den Buxtehudern jedenfalls traut er viel zu: „Sie haben Potenzial, sie sind fleißig und ehrgeizig.“
TAGEBLATT
Wie stellt ihr euch das Leben als Profi vor?
Jakob Leun
Mit Sicherheit anstrengend. Aber da muss man erst mal hinkommen.
Finn Leun
Man muss viel für den Handball tun, man muss Handball lieben.
Jakob Leun
Mann muss darauf Bock haben.
TAGEBLATT
Woher kommt diese Liebe?
Jakob Leun
Dieses Körperbetonte macht Spaß und die schnellen Richtungswechsel.
Finn Leun
Das Ziel ist eigentlich, den Gegenspieler auszutricksen. Das finde ich geil.
Der BSV hat in den vergangenen Jahren im männlichen Bereich eine ganze Reihe von Talenten hervorgebracht. Sebastian Firnhaber (THW Kiel) und Joshua Thiele (Hannover-Burgdorf) sind Bundesliga-Profis, Dominik Axmann und Pelle Fick spielen beim HSV Hamburg in der zweiten Liga. Und in den Internaten der Erstligisten sind weitere Ex-Buxtehuder zu finden: wie Lukas Grothe (Kiel) und Jonas Tjark (Hildesheim).
„Wir haben nicht nur kompetente Trainer bei den Mädchen“, sagt BSV-Jugendkoordinator Lars Dammann, „bei den Jungs ist sie ähnlich hoch.“ Der Unterschied ist, dass der Verein den Handballerinnen ab der B-Jugend eine Perspektive bieten könne – den Jungen dagegen nicht. Die Verluste der Talente müssten dem Verein doch schmerzen? „Nein, im Gegenteil“, sagt Dammann. „Das ist ein Kompliment für unsere gute Arbeit.“
Davon hat auch Joshua Saleh (17) profitiert. Saleh wechselte vor anderthalb Jahren vom BSV nach Leipzig, spielt jetzt in der A-Jugend und durfte schon bei den Profis mittrainieren. Er denkt, es in die zweite oder dritte Liga zu schaffen. „Bundesliga“, sagt er, „ist auch immer mit Glück verbunden.“ Saleh war es auch, der Jugendkoordinator Albrecht den Tipp gegeben hatte, dass es in Buxtehude zwei talentierte Linkshänder gebe: die Leun-Brüder.
Einige wirken kindlich, andere sehen aus wie Brecher
15.30 Uhr, Arena Leipzig, Spielstätte der Bundesliga-Mannschaft. In einer benachbarten Trainingshalle wärmen sich die B-Junioren bei einem Fußballspiel auf. 17 junge Männer – einige wirken kindlich, andere sehen aus wie Brecher – jagen dem Ball hinterher. Nach einigen kläglichen Schüssen ist es Jakob Leun, der abzieht und ins Tor trifft. Danach schmiert er einen Klumpen Harz in seine Hände, damit der Handball besser haftet, und folgt den Anweisungen von Co-Trainer Martin Möhle. Abwehrtraining steht an. Die Mannschaft will vorbereitet sein für die Finalrunde der B-Jugend-Oberliga Mitteldeutschland.
Eine Gruppe bildet den Angriff, die andere die Abwehr. Wer mehr „positive Erlebnisse“ verbucht, entgeht der Strafe. Die Abwehr um Leun, breites Kreuz, muskulöse Waden, zerrissenes Leibchen, lässt zu viele Gegentore zu. Fünf Burpees, eine Kombination aus Liegestütz und Strecksprung, gibt es zur Strafe.
Video: Das Teamtraining
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Zwei Pfiffe beenden das Training. Die Abendsonne scheint in die Halle. Möhle ist zufrieden: „Lasse hat eine gute Struktur in der Spielführung an den Tag gelegt, Jakob ein gutes Zweikampf-Verhalten.“ Finn fehlte verletzt. Erste Entwicklungssprünge, sagen sie in Leipzig, zeichneten sich nach einem halben Jahr bereits ab.
Druck, sagen die drei Buxtehuder, spürten sie nicht, und der Konkurrenzkampf innerhalb der Mannschaft halte sich in Grenzen. Was aber, wenn der Traum frühzeitig platzt? Lasse Kock kann sich vorstellen, nach der Realschule aufs Gymnasium zu wechseln. Jakob Leun interessiert sich für Physiotherapie, sein Bruder Finn für Innenarchitektur. An erster Stelle aber steht für die Talente nur eines: der Sprung in den Profi-Handball.